Isla Dormitanda
»Wenn ich's euch doch sag. Die Insel war plötzlich da. Ist aus'm Ozean hochgeblubbert wie ne Quietscheente in der Badewanne. Die Welle hat mir fast den Kutter umgeworfen und den alten Pit hat's glatt von Bord gefegt! Wär fast ertrunken der Gute, so randvoll Rum wie der war. Aber egal. Also, über der Insel da lag ne riesige Blubberblase, und die ist urplötzlich geplatzt. Einfach so – puff – wie ein überfälliger Seekuhfurz. Und dann schlugen die Kokosnüsse ein. Lacht nicht! Wirklich, Kokosnüsse! Da saßen so Affen in den Bäumen mit Schwänzen so breit wie von scheiß Bibern und die haben sie wie Katapulte benutzt. Haben sich scheckig gelacht, während sie uns bombardiert haben. Den Spaß ihres Lebens hatten die, sag ich euch. Und wo ich das so sah, dacht ich mir: Also, wenn das nicht die Insel ist, von der dein alter Herr damals erzählt hat, dann fress ich meinen Kahn mitsamt Pit! Dacht ich mir. Isla … Isla Schießmichtot. Weiß den Namen nicht mehr. Isla auch egal. Auf jeden Fall ist das Ding wieder aufgetaucht, genau wie bei Paps damals!«
– Aufgeschnappt und niedergeschrieben von Prof. Dr. Dr. Eleandra Spitzwegerich, in: „Seemannsgarn im Spannungsfeld zwischen Authentizität und Glaubwürdigkeit – Eine soziologische Untersuchung des Matrosenberufes“
Zum ersten Mal seit über fünfzig Jahren ist die Wanderinsel Isla Dormitanda wieder aufgetaucht. Was genau dieses besondere Eiland dazu antreibt, quer durch die Weltmeere zu schwimmen, immer wieder abzutauchen und von der Meeresoberfläche zu verschwinden, weiß nach wie vor niemand. Zumindest scheint mittlerweile geklärt, wie Dormitanda es schafft, ihre Flora und Fauna bei Tauchgängen am Leben zu erhalten. Vorausgesetzt man glaubt den Theorien, dass die Abarten der Mangrovenbäume an den Küsten eine große, die gesamte Insel umspannende Luftblase bilden, wenn Dormitanda in den Fluten des Meeres versinkt.
Andere Rätsel sind in jedem Fall noch ungelöst. Folgt die Insel einem eigenen Willen oder sind ihre Wanderungen bestimmten Naturzyklen unterworfen? Wer waren die Menschen, die hier gelebt haben und warum verschwanden sie? Wie kann das Eiland abtauchen und wieder auftauchen?
Das letzte Mal tauchte die Isla Dormitanda vor 55 Jahren und 5 Monaten in der Nähe des südlichen Calm Belt an der Redline auf und blieb für 55 Tage an der Meeresoberfläche, bevor sie wieder abtauchte und ihre Wanderung fortsetzte. Entsprechend groß war das Interesse, als bekannt wurde, dass Fischer das Eiland nun erneut entdeckten. Und noch größer wurde das Interesse, als die Neuigkeit die Runde machte, dass die Menschen, die hier beim letzten Auftauchen noch gelebt hatten, nun spurlos verschwunden sind.
Sofort setzten unzählige Schiffe die Segel. Ihr Ziel? Isla Dormitanda! Darunter gleich mehrere Forschungsschiffe mit hastig finanzierten und zusammengetrommelten Expeditionscrews, die die geologischen und biologischen Eigenarten der Wanderinsel unter die Lupe nehmen sollen. Außerdem zahlreiche Schatzsuchende und Piratenbanden, die sich erhoffen, auf Dormitanda Reichtümer bergen zu können.
Sogar Handelskompanien sollen Vertreter auf die Wanderinsel geschickt haben, um auszuloten, ob man die Ressourcen der Insel abbauen und verschiffen könne. Und natürlich blieben auch Schaulustige nicht aus, die sich dieses Spektakel einmal anschauen und vielleicht ein kleines Abenteuer auf Dormitanda erleben wollen. Ja, sogar ganze Familien haben sich auf den Weg gemacht, so dass die Bucht der Wanderinsel sich schnell zu einem regelrechten Touristenmagnet entwickelt hat. Das wiederum lockte die Marketender an. Handelsschiffe, Restaurantschiffe, Hotelschiffe, kurz gesagt all jene, die dem Geruch von Berrys folgen. Sogar das Schiff einer Marineeinheit hat Anker gelegt. Offenbar will die Regierung Militärpräsenz zeigen und nicht den Eindruck erwecken, ein solches Ereignis würde ihrem Auge verborgen bleiben.
Alle scheinen sich darüber im Klaren zu sein, dass die Isla Dormitanda nicht lange in erreichbarer Nähe bleiben wird, und dass es dann möglicherweise weitere Jahrzehnte dauern wird, bis man dieses mysteriöse Eiland wieder betreten kann.
In dem Sinne packt am besten auch ihr direkt eure Sachen und macht euch auf den Weg. Erforscht die verlassenen Ruinen im Inselinneren, versucht dem Geheimnis der Insel auf den Grund zu gehen, genießt die seit Jahrzehnten unberührte Natur, sucht nach ungehobenen Schätzen oder jagt die bereits gehobenen anderen Schatzsuchern ab, oder lasst es euch am Strand gut gehen. Aber passt auf euch auf. Nicht jeder, den es hierher treibt, ist von reiner Neugierde angetrieben und nicht jeder hat ethische Bedenken, wenn es darum geht, Schätze auszugraben.
Man sieht sich am 30.07.2022 um 18 Uhr auf Isla Dormitanda.